Seit ich vor dreißig Jahren Vegetarier wurde, werde ich mit
dem Vorwurf des Fanatismus konfrontiert.
In Vielem habe ich meinen Fanatismus seitdem erkannt und abgelegt.
In Manchem bin ich sicherlich noch immer fanatisch.
Aber sehr oft wird ein Fanatismus kritisiert, wo es sich um gesunde Konsequenz
handelt.
Wo ist die Grenze, was ist der Unterschied?
Oft wird es als Fanatismus bezeichnet, wenn ich mich im
Gespräch zu meinem christlichen Glauben bekenne. Es ist sehr merkwürdig, dass das in einem Kulturkreis, der auf die christliche
Verkündung aufbaut und in ihr verwurzelt ist, so ankommt. Der Nihilismus und
der Agnostizismus scheinen heute so selbstverständlich, dass ein solches
Bekenntnis außerhalb eines kirchlichen Rahmens verunsichert und eine
Abwehrreaktion hervorruft. Ich sehe hier den Vorwurf des Fanatismus als eine
Abwehrreaktion, die letztlich auf Unsicherheit beruht. Etwas anderes wäre es,
wenn ich meinen Glauben ungefragt herausposaunen oder gar damit missionieren
würde. Aber das tue ich nicht, sondern spreche nur darüber, wenn es im Gespräch
um weltanschauliche Themen geht. So habe ich den Eindruck, viele Menschen
möchten gerne über weltanschauliche Themen philosophieren, aber immer nur von
außen, sozusagen als Unbeteiligte. Sobald ihr Gegenüber sich als überzeugter
Vertreter einer Weltanschauung bekennt, gleich welcher, gilt er als
„fanatisch“. Tut mir leid, hier handelt es sich um eine Abwehrreaktion aus
Unsicherheit.
Wir leben in einer Gesellschaft, wo die Unverbindlichkeit
zur verbindlichen Doktrin geworden ist. So ist man es nicht mehr gewohnt, dass
sich ein Mensch auf einen Standpunkt festlegt. Man kann nicht mehr damit
umgehen und stempelt es als „Fanatismus“ ab. Traurige Entwicklung. In einer
Gesellschaft der Rückgratlosen gilt der Mensch mit Rückgrat als fehlgebildet.
Ähnlich ist es mit dem Gebiet der gesunden Ernährung.
Natürlich darf eine persönliche Ernährungsreform nicht dazu führen, dass man
andere Menschen wegen ihrer Ernährung moralisiert. Darauf achte ich streng und
halte mich mit meinen Ernährungsempfehlungen sehr zurück. Überdies ist es ja
so, dass ich mich mit dem Bereich der Ernährungsberatung selbständig machen
will und meine Perlen schon von daher nicht kostenlos umherstreuen will. Allein
aber schon die Grundaussage, dass es einen Zusammenhang zwischen der Ernährung
und dem Gesundheitszustand gibt, ruft in Vielen die Abwehrhaltung hervor, das
wäre ja Fanatismus, dann dürfe man ja gar nichts mehr essen, man müsse ja das
Leben genießen etc.
Natürlich ist das vollkommen unsachlich. Es geht nicht
darum, nicht mehr zu genießen, sondern im Gegenteil, bewusster zu genießen. Es
geht nicht darum, seine Nahrungsauswahl zu verkleinern, sondern zu verlagern. Aber
so weit kommt man im Gespräch meist gar nicht. Man wird in eine Schublade
gesteckt, und damit ist für die Meisten die Sache erledigt.
Die Schublade
„Vegetarier“ bedeutet für die meisten gleich „etwas durchgeknallt“,
„liebenswert, aber nicht ganz zurechnungsfähig“, „verträumt und schwächlich“
und „fanatisch“. Schwupp, Schublade zu. Sehr beliebt ist auch die Schublade
„Rohköstler“. Ich brauche nur die Vorzüge der rohen Pflanzenernährung zu erwähnen
und hervorzuheben, wie wichtig es sei, sie täglich mit einzubeziehen. Schwupp,
schon stecke ich in der Schublade „Rohköstler“, dabei bin ich noch lange kein
Rohköstler. Das ist, als würde man einem Menschen, der gerne Schokolade isst,
den Stempel „Schokoladist“ verpassen. Das ist natürlich vollkommen unsachlich
und eine Abwehrreaktion. Das was in der Schublade ist, kann mir nichts mehr
anhaben. Damit brauche ich mich nicht mehr ernsthaft auseinandersetzen. Die
Schublade „Rohköstler“ bedeutet ganz sicher „fanatisch“. Sie bedeutet nicht
mehr „liebenswert durchgeknallt“, sondern schon „gefährlich durchgeknallt“. Um
so einen Menschen muss man sich ernsthaft Sorgen machen.
Abgesehen davon, dass ich eine andere Meinung von Rohköstlern habe, komme ich
meist gar nicht mehr zu der feinen Unterscheidung, dass ich ja gar keiner bin. Egal,
in diese Schublade passe ich eben gut rein.
Auf meinem Weg habe ich mich sehr ernsthaft mit dem Vorwurf
des Fanatismus auseinandergesetzt und habe mich ehrlich bemüht, bei mir die
Punkte zu finden, die etwas damit zu tun haben könnten. Ich bin auch fündig
geworden und durfte bereits Einiges erkennen und ablegen. Ich entdeckte, dass
es sich bei mir immer dann um Fanatismus handelte, wenn ich mir Dinge versagte
und sie bei anderen verachtete, z.B. Konsum von Zucker und süßen Produkten wie
Kuchen und Gebäck. Ich entdeckte, dass hinter der Verachtung Neid steckte, und
dass der Neid durch einen Fanatismus entstand und hinter dem Fanatismus ein
asketischer Ehrgeiz steckte und hinter dem asketischen Ehrgeiz ein vermindertes
Selbstwertgefühl, das ich damit kompensieren wollte. Ich entdeckte diese
Zusammenhänge und arbeitete damit über viele Jahre. Immer wieder wurde ich
aufmerksam, wenn sich die kleinsten Anzeichen von Fanatismus bei mir zeigten.
Die Vorwürfe des Fanatismus haben sich jedoch nicht
gewandelt, sie kommen unverändert und stärker denn je.
Mittlerweile bin ich an
einem Punkt, wo ich differenziere und feststelle, diese Vorwürfe sind sehr oft nicht
mehr meins. Sie beschreiben nicht einen unaufgearbeiteten Punkt bei mir,
sondern beim Kritiker meiner Auffassungen.
Es ist nun mal so, dass es Naturgesetze gibt. Wenn man ein
warmes Getränk haben will und tut Eiswürfel rein, dann wird das Getränk kühler
und nicht wärmer. Das ist eine Feststellung. Die Naturgesetze sind weder
fanatisch noch milde, sie sind einfach so wie sie sind. Die Kritiker meiner
Ernährungsempfehlungen reden in etwa so:
„Dann darf ich ja nie mehr Eiswürfel in meine Getränke
machen! Eine total fanatische Auffassung! Das kann ja nicht gesund sein, wenn
ich mein Leben nach solchen Regeln ausrichten soll!“
Es ist nun mal aber so, dass unser Leben nach
Ursache-Wirkungs-Prinzipien abläuft.
Wer raucht, erhöht sein Risiko für Asthma und Lungenkrebs.
Ganz sicher wird er seine Lungenkapazität herabsetzen. Das ist ein Naturgesetz.
Ebenso setzt der Mensch Ursachen mit raffinierten
Kohlenhydraten und tierischen Eiweißen. Diese rufen bestimmte Wirkungen in
seinem Körper hervor. Das ist nun mal Naturwissenschaft, auch wenn unsere
angeblich so wissenschaftliche Medizin meist nicht mit diesen Zusammenhängen
arbeitet.
Jemand, der darauf aufmerksam macht, der sagt ja nicht, man
dürfe nicht mehr rauchen oder raffinierte Kohlenhydrate genießen oder tierische
Eiweiße mit einbeziehen oder Eiswürfel ins Wasser tun. Jemand, der darauf
aufmerksam macht, muss deshalb noch lange nicht fanatisch damit umgehen und
sich alles von heute auf morgen versagen und schon gar nicht seine Mitmenschen
missionieren. Jemand, der darauf aufmerksam macht, ist durchaus auch noch
fähig, auf die Genussbedürfnisse seines Körpers zu hören, ihnen nachzugeben und
seinen Mitmenschen ihre Freiheit zu lassen.
Aber jemand, der auf diese Zusammenhänge aufmerksam macht
und dafür plädiert, dass die Vorsorge vor Krankheiten doch auch ein Kriterium
für die allmähliche Umgestaltung unserer Lebensgewohnheiten sein muss, der wird
per se als „fanatisch“ abgestempelt.
Tut mir leid, das geht an der Sache vorbei. Das weckt
Assoziationen an eine Hexenjagd und an eine Austreibung von bösen Geistern, die
in einer vorgeblich naturwissenschaftlich aufgeklärten Gesellschaft überraschen.
Mittlerweile musste ich mir eingestehen, dass diese Gesellschaft von einer
naturwissenschaftlichen Aufklärung noch weit entfernt ist. Sie steckt tief im
Aberglauben drin, und gerade die Konfrontation mit naturwissenschaftlichen
Gesetzmäßigkeiten weckt Ängste vor bösen Geistern. Das ist der wahre Zustand
dieser Gesellschaft. Man belegt die bösen Geister mit „Bannflüchen“, denn
Schubladen sind nichts anderes. Vor zweitausend Jahren hießen die Bannflüche „Teufel“
und „Satan“, später hießen sie „Ketzer“ und Hexe“, heute heißen sie „Sektierer“,
„Vegetarier“, „Rohköstler“ und „Fanatiker“. Dieses Verhalten hat mit einer
sachlichen Auseinandersetzung nichts zu tun, sondern ist eine reflexhafte
Abwehr mit einer abergläubischen Note. Die bösen Geister werden gebannt, sie
werden in Schubladen gesteckt, auf dass sie einem nichts mehr anhaben können. So
zeigt es sich, dass auf der einen Seite Unglaube und Aberglaube wunderbar
harmonieren, wie auf der anderen Seite Glaube und Naturgesetze. Denn die
Naturgesetze sind ein Aspekt der göttlichen Gesetze.
Zurück zur Ausgangsfrage:
Wann ist es Fanatismus, wann ist es gesunde Konsequenz?
Ein einfacher Leitsatz hilft mir als Eichmaß:
„Strenge zu sich selbst und Güte zu anderen“.
Nun, kann nicht auch die Strenge zu sich selbst übertrieben
werden? Ja natürlich, aber immer dann, wenn die Strenge zu sich selbst die
Bereiche gesunder Konsequenz verlässt und zum Fanatismus wird, leidet die
Güte zu anderen. Wer beginnt, seine Mitmenschen zu moralisieren, der hat die
rote Warnleuchte, die ihn darauf aufmerksam machen will, dass bei ihm selber
was nicht stimmt.
„Strenge zu sich selbst und Güte zu anderen“
– Wer es vermag, danach zu leben, der ist nicht fanatisch, der ist im Lot.