10.) Das Schlauchboot-Prinzip und der Stufenweg der Ernährung
Wir sehen also, dass uns alles, was als Leistungssport betrieben wird, langfristig eher schadet als nützt. Ein Leistungsdenken in einem Bereich führt uns zwar kurzfristig zu erstaunlichen Höchstleistungen - geht aber letztendlich auf Kosten der ganzheitlichen Entwicklung.
Sollte das im Bereich der Ernährung anders sein?
Von Siddhartha Gautama ist bekannt, dass er auf seinem Weg eine Zeit lang einer strengen Mono-Frucht-Ernährung folgte: Er ernährte sich nur noch von wilden Waldbeeren. Darin war er zwar konsequent, nur kam er dabei seinem Ziel, der Erleuchtung, nicht näher. Schließlich aß er auch wieder gekochten Reis, erlangte die Erleuchtung, wurde zum Buddha und lehrte den "Weg der Mitte". Hat sein Beispiel nicht auch uns Heutigen etwas zu sagen?
Dabei soll es natürlich auch nicht darum gehen, seine Ernährungsweise zu imitieren, denn vom Buddha ist ebenso überliefert, dass er im Alter extrem hinfällig und gebrechlich war. Vom Gesundheitsideal, wie es zum Beispiel die betagten Hunzas vorleben (Kapitel 7 und 18), war er im Alter weit entfernt. Deshalb bleibt es unser Ziel, uns auf eine optimale Gesundkost auszurichten. Jedoch kann "der Weg der Mitte" eine Richtschnur für uns sein, indem wir auf der einen Seite zwar den Versuchungen der unnatürlichen Zivilisationskost allmählich entsagen, auf der anderen Seite aber auch nicht verdrängen.
Der Mechanismus der Verdrängung, der in den letzten drei Kapiteln beschrieben wurde, ist einem Schlauchboot vergleichbar. Es hebt sich an der gegenüberliegenden Seite, wenn wir eine Seite unter Wasser drücken. Sobald wir das Negative, unsere Schwächen und Fehler, an einer Stelle unterdrücken, wird es an einer anderen Stelle umso deutlicher hervortreten. Möchten wir mit einer enormen Willens- und Kraftanstrengung die Gesamtheit unserer Schwächen und Fehler unter der Wasseroberfläche verschwinden lassen, so wird das nur kurzfristig möglich sein. Ein Schlauchboot, das mit Gewalt unter Wasser gedrückt wurde, wird mit Vehemenz emporschießen, sobald der Druck wegfällt, in einer Weise, die nicht mehr zu kontrollieren ist. Möchten wir das Schlauchboot dauerhaft versenken, so geht das nur, wenn wir Kammer um Kammer die Luft ablassen. Wir lassen damit also das Negative frei und verstecken es nicht mehr. So kann es sich umwandeln in Positives, in frische, gute Atemluft. Das Schlauchboot unserer Sorgen und Probleme wird dann von ganz alleine untergehen. Das ist der Weg ohne Zwang und Druck. Das ist der Weg der Auflösung und nicht der Verdrängung.
Das führt auf dem Weg der Ernährung zu einem sanften Stufenweg, um den es hier gehen soll. Der Weg zur Vervollkommnung besteht nicht einfach im "Weglassen" (von Fleisch, von Zucker, von allem Gekochten usw....). Das Weglassen an sich führt noch zu keiner harmonischen Entwicklung, das Weglassen an sich ist nur ein Unterdrücken. Das Äußere wandelt sich durch das Innere, das heißt, ein innerer Wandel ermöglicht uns den äußeren Wandel ohne das Gefühl eines Verzichts. Andererseits führen auch unsere inneren Schritte noch zu keinem ganzheitlichen Fortschritt, wenn wir im Äußeren keine neuen Verhaltensmuster bewusst studieren und eintrainieren. Hierfür gibt es die verschiedenen Ernährungssysteme, und ein Mensch auf dem "inneren Weg" sollte sie nicht einfach als "äußerlich" abtun, denn die Ganzheitlichkeit umfasst eben alle Lebensbereiche. Allein für sich aber, ohne ganzheitlichen Hintergrund, ohne den Weg der sanften Tranzendierung, können diese Ernährungssysteme unter Umständen mehr schaden als nützen.
Ursprünglich wollte ich ein Rohkost-Buch erst dann schreiben, wenn ich einmal genug praktische Erfahrungen mit der hundertprozentigen Rohkost hätte. Ich wollte nicht als bloßer Theoretiker dastehen. Jedoch bin ich ja mit mir selber im Reinen. Denn die Auffassung, die ich hier darlegen und vertreten möchte, ist ja gerade, dass ein Übergang in der Regel schrittweise erfolgen sollte. Meine Schritte tue ich, nur Sprünge sind nicht meine Sache.
Die Ernährung ist ein Ausdruck unseres Bewusstseins. Wie dieses allmählich fortschreitend in Schüben wächst, so sollte sich auch die Ernährung wandeln. Die Menschen, die die eine große Erleuchtung finden, die mit einem Schlag alles wandelt, sind die Ausnahmen. Die meisten Menschen entwickeln sich wie ein Baum: vom Samen über den Schößling zum mächtigen Baum. Und ist nicht eine solche Entwicklung viel solider? Natürlich kann eine solche Anschauung leicht als Ausrede dafür herhalten, dieses oder jenes Laster noch viel zu lange zu behalten. Das ist eine Gefahr. Aber das zu schnelle Wachstum birgt in sich auch Gefahren, bzw. die zu schnelle Umstellung in der Lebensweise. Sadhu Sundar Sing, ein indischer Urchrist (1889 - 1929, verschollen), sagte einmal:
"Der Bambus wächst zwar einen Meter an einem Tag, aber innen drin bleibt er leer und hohl."
Hier haben wir also unseren "Weg der Mitte" zu finden, den allmählichen Umstellungsweg, die Mitte zwischen Beharren im Alten und zu schnellem Vorgehen durch Unterdrücken der alten Neigungen...